Shanghai um 1900 (Symbolbild) | Charlotte lief eine Weile an der Uferpromenade, dem Shanghaier Bund, entlang und beobachtete, wie magere, muskulöse Gestalten Kisten von riesigen Schiffen hievten und auf Karren luden, um sie dann mit flinkem Geschick durchs Getümmel zu lotsen. Auf der gegenüberliegenden Seite wuchsen Steinbauten in die Höhe, die sich in den letzten Jahren rasant vermehrt hatten: Handelshäuser und Banken schossen regelrecht aus dem Boden, während Shanghai von Zuwanderern, die aus der Ferne übers Meer, aber auch aus dem Landesinneren kamen, regelrecht überschwemmt wurde. Ein paar Chinesen strampelten auf einem neumodischen Gefährt namens Fahrrad vorbei. Charlotte staunte über ihre Fähigkeit, trotz allen Gerangels und Geschubses das Gleichgewicht auszubalancieren. Sie überlegte, ob sie ihre Eltern überreden konnte, auch ihr so ein Fahrrad zu besorgen, was den Heimweg von der Schule vereinfacht hätte. Doch würde ihre Mutter sich sicher Sorgen machen, dass sie unterwegs verunglücken oder überfallen werden könnte. Viktoria Huntingdon gab ihrer Tochter regelmäßig Geld für eine Jinrikscha, damit diese sie heil nach Hause bringen sollte. Doch Charlotte ging trotzdem zu Fuß, denn sie liebte es, durch diese vor Leben und Geschäftigkeit überbordende Stadt zu streifen. Zum Glück war ihre Mutter zu beschäftigt, um die siebzehnjährige Tochter ständig zu kontrollieren. Es war zudem nicht schwer gewesen, sie davon zu überzeugen, dass der Unterricht in der von Missionarinnen betriebenen Mädchenschule oftmals etwas länger dauerte. Die auf diese Art gewonnene Zeit ermöglichte es Charlotte, sich mit Shao Yu zu treffen. Ihr Freund aus Kindertagen schenkte ihr nicht nur Melonenkerne zum Kauen, sondern zeigte ihr vor allem jene Teile Shanghais, die zu besuchen ihre Eltern ihr streng verboten hatten. Dafür überließ sie ihm das Geld für ihre Heimfahrt, denn sie wusste, wie nötig er es brauchte.
Nun bog sie in die Nanjing Road ab und anschließend in eine Seitengasse. Mit eiligen Schritten hastete sie zu dem kleinen, schlichten Teehaus, vor dem Shao Yu regelmäßig auf sie wartete. Es war eng, sie musste sich an Wasserträgern, Nudelverkäufern und Prostituierten vorbeischieben. In Shanghai konnte man nicht überleben, ohne eine gewisse Rücksichtslosigkeit zu entwickeln. Schließlich fand sie eine freie Fläche unterhalb einer verschmutzten Laterne, wo sie ruhig stehen bleiben konnte. Ihre züchtige, westliche Schuluniform brachte ihr etliche neugierige Blicke ein, schützte sie aber auch vor Zudringlichkeiten. Sie wartete, während um sie herum geschrien, gestritten und verhandelt wurde. In dem Teehaus traten ein paar Akrobaten auf und eine stark geschminkte Frau sang schrill und schief. Ein Stück neben Charlotte stritten sich zwei Prostituierte um einen Kunden, den sie beide fest gepackt hatten, sodass es für den Mann kein Entkommen mehr gab.
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