Charlotte wusste, dass sie hier viel besser zurechtkam als er. Seine Annahme, überall für Ordnung sorgen zu können, war vermessen. Ahnte er nicht, wie schnell ein Messer aus der gesichtslosen Menge geworfen werden konnte, um einen Menschen von hinten niederzustechen, ohne dass der Mörder jemals gefunden wurde? Doch dieser gut aussehende, naive, überhebliche Lao Wai bot ihr die beste Gelegenheit, über Shihua und ihre Gefährtinnen zu triumphieren. Eine Chinesin in Schuluniform und noch dazu mit großen Füßen, die in beiden Welten wohl niemals einen Mann finden würde, spazierte nun an seiner Seite davon. Er bemühte sich, in dem Getümmel den Weg freizukämpfen und stieß dabei mehr Leute zur Seite, als wirklich notwendig war. Sie ging davon aus, dass er sich ihr gegenüber stark zeigen wollte, und verzieh ihm daher sein grobes Benehmen. [...]
Gemeinsam kämpften sie sich weiter durchs Getümmel. Je näher sie dem Bund kamen, desto westlicher wurde Shanghai. Charlotte meinte, erkennen zu können, wie die Schultern ihres Begleiters sich etwas entspannten. Was hatte er eigentlich allein in einer Gegend voller chinesischer Freudenhäuser gesucht? Die naheliegendste Antwort gefiel ihr nicht, denn sie ließ ihren ebenso ungeschickten wie strahlenden Retter etwas schäbig wirken. Aber nun, da er an ihrer Seite einherschritt, schien es ihr unwichtig.
Was im Shanghai der vorletzten Jahrhundertwende als charmante Liebesgeschichte zwischen Ost und West beginnt, mündet im Lauf der Erzählung in eine mitreißende Darstellung rund um den verheerenden Boxeraufstand (1899-1901). Mit interessanten Details zur Rolle Deutschlands und seiner damaligen Kolonie Tsingtao/Qingdao.
Autorin Tereza Vanek (52) lebt als Übersetzerin und Schriftstellerin in München. Ihr besonderes Interesse beim Schreiben gilt historischen Ereignissen, ungewöhnlichen Frauengestalten und der Begegnung von Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen.