Wenrou legte das Buch weg, denn es verdüsterte seine Stimmung unnötig. Ihm fiel ein, dass er Joshua seit mehreren Wochen einen Brief schuldig war. Der große, schlaksige Junge mit der bleichen Haut eines Geistes und feuerrotem Haar musste schon lange zu einem Mann herangewachsen sein und hatte nun auch geheiratet. Eine Frau, die sich für Politik interessierte und für ihre Geschlechtsgenossinnen das Wahlrecht erkämpfen wollte, so hatte er seine Dorothy beschrieben. Man konnte mit ihr Whisky saufen, fluchen und über jedes erdenkliche Thema reden, ohne dass sie schockiert reagierte.
Ob es solche Frauen in China überhaupt gab? Wenrou ging davon aus, dass in einem riesigen Reich ein paar solcher Exemplare aufzutreiben wären, doch würde er aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung niemals mit ihnen in Berührung kommen. Er begriff allerdings nicht, warum dieser Umstand seine Laune noch weiter verdüsterte, denn er konnte sich nicht erinnern, jemals den Wunsch nach einer solchen Art von weiblicher Gesellschaft verspürt zu haben. Ihm gefielen jene zarten, sanftmütigen Wesen, die auf den Booten am Kanal in Beijing die Wünsche von Männern erfüllten. Eine Weile wenigstens hatten sie ihm gefallen, bis er sich mit ihnen zu langweilen begann.
Er drehte sich auf den Rücken und betrachtete den kunstvoll verzierten Baldachin über seinem Bett. Die lange Zeit ohne irgendeine sinnvolle Aufgabe tat ihm nicht gut, brachte seine Gedanken nur auf Abwege und ließ ein Loch in seinem Inneren entstehen, das all seine Energie in sich aufsaugte.
„Junger Herr, Euer Vater wünscht Euch zu sehen!“, vernahm er plötzlich die Stimme seines persönlichen Dieners. Er stand wortlos auf. Vermutlich würde das Gespräch unerfreulich verlaufen, doch war er daran gewöhnt und wusste, dass ein unnötiges Hinauszögern die Lage nur verschlimmern würde.
Was im Shanghai der vorletzten Jahrhundertwende als charmante Liebesgeschichte zwischen Ost und West beginnt, mündet im Lauf der Erzählung in eine mitreißende Darstellung rund um den verheerenden Boxeraufstand (1899-1901). Mit interessanten Details zur Rolle Deutschlands und seiner damaligen Kolonie Tsingtao/Qingdao.