Schließlich lief Charlotte noch einmal auf und ab und reckte sich, doch konnte sie das Gesicht ihres Freundes nirgendwo entdecken. Sie wich zwei Wasserträgern aus, an deren Schultern schwere Eimer baumelten, und wollte wieder zur Nanking Road eilen, als plötzlich jemand an ihrem Rock riss. „Da ist sie ja wieder, die kleine Lao Wai!“ Charlotte versteinerte. Sie kannte diese Stimme. Missmutig drehte sie sich um, denn sie wollte nicht feige wirken, indem sie weglief. Shihua trug ein grellrotes Kleid und in ihren Ohren baumelten bunte, billige Ohrringe. Selbst eine dicke Schicht aus Schminke vermochte es nicht, dem ausgemergelten, frühzeitig gealterten Gesicht eine anziehende Wirkung zu verleihen. Als das Mädchen spöttisch grinste, tauchten gelbe Zahnstummel auf. „Na, ist der Unterricht vorbei?“ „Ja, das ist er“, erwiderte Charlotte gleichmütig. „Und jetzt gehe ich nach Hause.“ Sie versuchte, an Shihua vorbeizukommen, doch zwei andere Frauen versperrten ihr ebenfalls den Weg. Charlotte wurde etwas unwohl und sie sah sich um. Niemand hier beachtete sie. „Wozu brauchst du in deinem Alter noch eine Schule? Eine richtige Frau wäre schon längst verheiratet“, fragte eine von Shihuas Begleiterinnen mit zornigem Spucken. „Ich lerne eben gern“, erwiderte Charlotte. „Aber ich weiß, es liegt nicht jedem.“ Shihua hatte das Waisenhaus vor drei Jahren freiwillig verlassen. Die Besitzerin eines Bordells musste ihr eine bessere, weniger anstrengende Zukunft versprochen haben. Als Shihua begriffen hatte, dass diese Entscheidung ein Fehler gewesen war, hatte es keinen Weg zurück mehr gegeben.
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