Leichter Nieselregen benetzt die Haut. Hinter den zarten Schleiern aufsteigender Nebel erheben sich schattenhaft die Silhouetten fernöstlicher Gärten aus der unbewegten Stille des Sees. Kein Windhauch stört die tiefe Ruhe. Zeit und Raum verlieren ihre Macht. Die Schönheit des Westsees von Hangzhou zeigt sich zu jeder Jahreszeit in einer anderen Gestalt. Die mystische Poesie der Landschaft entfaltet sich besonders eindringlich an einem nebligen Regentag im frühen Sommer ? eine Szenerie wie aus alten chinesischen Landschaftsgemälden. Die verzaubert wirkende Landschaft ist ein Ort voller Mythen, Märchen und Legenden.
Auch zum See selbst und seiner Entstehungsgeschichte gibt es einen ganz besonderen mythologischen Hintergrund: Vor langer Zeit, als noch alle irdischen Wesen mit den Kräften des Himmels in Harmonie lebten, kam es eines Tages zu einem Streit zwischen den Herrschern der Erde, Drache und Phoenix, und der Göttin des Himmels. Aus Trauer über die Störung der Harmonie entwich den Augen der Göttin eine Träne, die als edle Perle auf die Erde nieder fiel. Dort, wo die Perle das Land berührte, entstand eines der schönsten Gewässer Chinas, der Westsee.
Noch heute gelten Drache und Phoenix als Inbegriffe für die irdische Herrschaft von Kaiser und Kaiserin. Dem Drachen gehören kaiserliche Attribute wie Macht, Reichtum und Glück, der Phönix symbolisiert die Kaiserin und verkörpert Eigenschaften wie Weisheit, Stetigkeit und langes Leben. Es verwundert kaum, dass dieser fast magische Ort zugleich auch der Schauplatz eines der bewegendsten Liebesdramen des chinesischen Schrifttums ist - die Legende von der weißen Schlange. Es ist die große Geschichte von Ewigkeit und Zeit, von Liebe und Leidenschaft, von Sein und Vergehen. Von der wärmenden Sonne im ausklingenden Winter, deren Strahlen den Schnee auf dem Bogen schneller schmelzen lassen, als an den beiden Enden, erhielt die "zerbrochene Brücke im tauenden Schnee" ihren geheimnisvollen Namen.
Die Sonne schien. Es war ein Vorfrühlingsmorgen im März, vor langer Zeit. Vor der zerbrochenen Brücke scharten sich Familien mit Kindern um einen dampfenden Kessel, in dem ein alter Mann duftende Jiao Zi zum Verkauf anbot. Schon in jenen Tagen galten die würzigen, mit Fleisch gefüllten Teigtaschen als eine besonders beliebte Köstlichkeit der chinesischen Küche. Die Jiao Zi des alten Mannes waren weithin bekannt und so beliebt, dass es meist nicht lange dauerte, bis der Kessel leer war.
"Es sind nur noch ein paar wenige ganz kleine Jiao Zi übrig", sagte der alte Mann mit Bedauern in der Stimme, als der kleine Xu Xian an der Hand seines Vaters vor den Kessel trat. "Es ist schon bald Zeit für mich, nach Hause zu gehen".
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